EUGEN GOMRINGER
Quantität und Qualität der Farblinie
Die Zeichnungen von Günter Walter
Das Ordnungssymbol vom Wesen der reinen Linie ist der lineare Maßstab mit seinen verschiedensten Längen. (Paul Klee, 1922)
Würden die Kritiker mancher Konstruktiver Konzepte diese nicht immer wieder summarisch als Spätlinge der Moderne oder der Avantgarde disqualifizieren und dafür differenzierter in der Gegenwart sehen, was sich im Felde dieser Konzepte immer wieder erneuert, würden manche Werke originärer Zeitgenossenschaft in der Öffentlichkeit veränderten Kategorien entsprechend beachtet werden. Es lässt sich zum Beispiel – um eine bekannte Thematik als knappes Resümee zu wiederholen – seit dem Jugendstilmeister Henry van de Velde und seinem Essay >Die Linie< von 1910 eine immer wieder aufgegriffene Auseinandersetzung zur Interpretation des Liniencharakters verfolgen. War die Linie für Van de Velde im Lauf ihrer Geschichte vorwiegend kulturelles Symbol, fand sie ein Jahrzehnt später in den Übungen von Paul Klee am Bauhaus ihre organisch-biologische Bedeutung. Es vesteht sich, dass mit der Linie, diesem wichtigsten Gestaltungsmittel schon jederzeit – abgesehen von Theorien, bedeutende Werke geschaffen worden sind, wobei im Sinne der Konstruktiv-Konkreten Kunst die Linie nicht nur als Umrandung und Begrenzung eingesetzt wurde, sondern sich im Rahmen eines Gesamtkonzepts verselbständigte. Schon Van de Velde sprach am Ende seiner Übersicht respektvoll von der Konstruktionslinie. Klee mit einem gänzlich unterschiedlichen Ansatz, ging von der Individualität und der Dividualität von Strecken, von der rhythmischen Repetition, von der Gliederung und dem Strukturwechsel aus. Er gab damit ein Verfahren der Differenzierung vor, das bekanntlich auch Meisterwerken diente.
Überdies erarbeitete Klee gleichzeitig auch Richtlinien für die Bewertung der Farbe. Im Bereich der Konstruktiven Konzepte bilden Werke, die ausschließlich auf der Konstruktionslinie aufgebaut sind, genauer auf der Geraden und der Strecke, eine nur sporadisch anzutreffende Disziplin. Werke, wo mit kurzen gestrichelten Linien, einer Art Schraffur, Bänder und Flächen erzielt werden, sind in der hier vorgeschlagenen Betrachtung, mit Ausnahme des Frühwerks, auszuschließen. Der Künstler Günter Walter engt das Repertoire der verbleibenden Konstruktionslinien noch um eine weitere Kategorie ein, indem er sich auf die gerade Farblinie konzentriert und diese mit dem Farbstift erzeugt. Es fällt sofort ins Auge, dass sich auf diese Weise ein exaktes Mittel und ein nur annäherungsweise exakt zu nennendes Mittel, die Farbe bzw. der Farbstift, in der Farblinie verbinden. Nicht ganz überflüssigerweise ist auch festzuhalten,dass Günter Walter die Farblinien von Hand zieht, wobei er nach der chronologischen Entwicklung im jüngeren Werk das Lineal benützt.
Schon diese wenigen Feststellungen lassen erkennen, dass der Künstler eine exakte Kunst mit eigenster persönlicher Diszipliniertheit schafft. Dass die Linien, ob länger oder kürzer, als Strecken mit der Hand gezogen werden – heute geradezu entgegen aller digital gebotenen Möglichkeiten – mag vielen oberflächlichen Kunstbetrachtern als altmodisch erscheinen – die Empfängnis für den Sinn solcher Kunst, die Verbindung von Auge, Hand und geistiger Konzentration, kann dann selbstverständlich nicht in Rechnung gestellt werden. Es ist eine analoge Kunstübung, über deren Wert als vollmenschliche Tätigkeit man sich leicht einigen kann.
Günter Walter begann mit der Linie, die von freier Hand gezogen wird. Er erarbeitete aus sanften Schraffuren Farbbänder und quadratische Flächen, die jedoch nicht der Herstellung solcher Formen, sondern der Bewertung der Farbqualität dienten. Dieses Vorgehen kommt einer Vorprüfung der sich in der dünnen Farblinie auswirkenden Qualität gleich. dadurch kann bewertet werden, was Paul Klee in seinen Aufgabenstellungen als Dreischritt für die Farbe analysierte: die Qualität der Farbe, ihr Gewicht und ihre Maßeigenschaft, letztere verstanden als Grenze, Umfang und Ausdehnung. Immer wieder ist erkennbar, wie der Künstler von schraffierten Flächen sozusagen Auszüge vornimmt, um damit Farblinien zu gestalten. Schraffuren dienen deshalb ganz klar nicht der Quantität der Farblinien, sondern der Qualität.
Günter Walter behält in der Farbe den Überblick von einem bis zu 32 Farbstiften. Damit lassen sich nun feine Geraden mit einem Duktus ziehen, den man nicht anders als leise nennen kann. Sie stehen aber nie allein auf der Fläche, sondern es ist der Sinn dieser Kunstübung, sie zu meist eng geführten Parallelen zu vereinigen. Es entstehen somit >Bänder< entweder in der einen gleichen Farbe oder ebensolche in gemischten Farben, wozu mit den Schraffuren oft die Farbwerte der komplementären Farben bestimmt werden. Eine einzige Farblinie, sanft durchgezogen, ist eine wunderbare Kunstlinie. Es gibt Künstler, die es oft bei zwei oder drei solcher Linien auf einem Blatt beruhen lassen. Dazu gehört dann meist der abnehmende Druck, mit dem die Linie ausläuft. Für Günter Walter setzt mit der Farblinie bzw. mit den Farblinienscharen eine andere Vorstellung ein, die Vorstellung konkreter Gestaltung. Für den Künstler der Konkreten Kunst ruft die Fläche nach Teilung, Bildplan, Ordnung, Kombination. Die Farbstiftlinie kommt der konkreten Gestaltung sehr entgegen – es gibt nur die reine, ungemischte Farblinie. Wenn jedoch mit Farbfamilien moduliert werden soll, lässt sich das durch nebeneinanderliegende Gruppen gleicher Farblinien erreichen. Daraus ergibt sich ein, je nach Plan offeneres oder dichteres Gewebe, verursacht gleichsam durch Schuss und Kette. Dabei hat es der Künstler >in der Hand<, unterschiedliche Wahrnehmungsakte paralleler Farblinien zu beeinflussen, z.B. durch additive Farbmischungen.
Der Fülle qualitativer Farbwerte und ihrer Kombinationen steht die Möglichkeit, die der >lineare Maßstab mit seinen verschiedenen Längen< setzt, keineswegs nach. Die Konstruktionslinie der Konkreten Kunst ist die Strecke, mit welcher der Gliederungscharakter gegeben ist. Sie ist Maß der Quantität im Ordnungsgefüge: einfache Strecke, doppelte Strecke usw. Dem Künstler bieten sich also mit den verschiedensten Streckenlängen in Verbindung mit den verschiedensten Farben eine Fülle kombinatorischer Konzepte, wobei die Themen und Systeme andererseits die Farben und die Längen der Strecken bestimmen. Als ein Modul erweisen sich die vier farbigen Quadratseiten innerhalb großer quadratischer Anlagen, die z.B. aus 6 x 6 oder 12 x 12 Quadraten bestehen. Man wird durch solche rhythmischen Folgen von Mengen an die Farbquadrate von Richard Paul Lohse erinnert, wobei der Unterschied zwischen den transparenten Linienquadraten von Günter Walter und den Farbflächen des Malers selbstverständlich evident ist. Im Fall der Linienquadrate folgt der Betrachter mit dem Auge den Positionen der einzelnen Farbstrecken und stellt die Struktur fest, die sich einem generellen Überblick zu entziehen scheint. Es muss einer umfangreicheren Darstellung überlassen werden, ähnlich wie sie für das Werk von einigen Konkreten Künstlern der strengen Planung besteht, die thematische Ordnung struktureller Möglichkeiten darzustellen. Abgesehen von struktureller Ähnlichkeit fällt bei den Farblinienstrukturen auf, dass sich dank der feinen Führung der Linien unerhört subtile Gebilde entwickeln lassen.
Auch wenn Günter Walter Wert legt auf den durchwegs gleichartigen Druck auf den Farbstift, wirken seine Konstruktionen dennoch gefühlt und mit subjektiver Identität. Dies ersetzt vermutlich die enge Berührung der Farben, wie sie bei Flächen möglich ist, und damit die >Interaktion der Farben<, deren Beobachtung sich bekanntlich Josef Albers`Testverfahren eingebürgert hat. Dafür stehen den Farbstiftzeichnungen die Bildung von Farbzonen durch Farbfolgen und Farbmischungen sowie der kaum ausschöpfbaren optischen Effekte zu Dienste. Günter Walter hat zu diesem Kapitel der Konkreten Kunst bereits eine breite Grundlage an Konzepten geschaffen.
HELMUT ALBERT
Günter Walter und die gegenstandslose Welt
…Günter Walter ging einen konsequenten Weg, ohne sich Kunstströmungen anzupassen und die Zugehörigkeit seiner Werke zur Konkreten Kunst ist ein Resultat seines unabhängigen Schaffens. Wenn man nach Vergleichen zum Werk Günter Walters sucht, so denkt man unter anderem an Arbeiten von Ad Dekkers, Agnes Martin, Bridget Riley und Hans Jörg Glattfelder. Konkrete Künstlerinnen und Künstler, die ebenfalls systematisch mit farbigen Linien arbeiteten. Doch es gibt auffällige Unterschiede, insbesondere in Walters Verwendung des fast spröden Farbstiftes, nicht nur in der Vorarbeit oder Skizze, sondern im künstlerischen Endprodukt. Walter räumt dem Farbstift als primärem Gestaltungsmittel einen Rang ein, der so in keinem anderen Werk Konkreter Kunst zu finden ist. Er erweitert das Spektrum der Konkreten Kunst nicht durch Hinzunahme spektakulärer Materialien etc., sondern durch Beschränkung des künstlerischen Medíums auf ein äußerst unspektakuläres Zeichenmaterial. Die Besonderheit des Walter´schen Oeuvres liegt in der Gegenüberstellung eines streng orthogonalen Rasters und einer erkennbar von Hand gezogenen Linie. Er bringt Aspekte der klassischen Zeichnung, eine emotionale Linie mit ab-und zunehmender Breite zusammen mit Rastern und Systemen aus dem Bereich der Konkreten Kunst. damit stellt er der Perfektion ein menschliches Moment entgegen.
Walters Arbeiten brauchen Zeit, um zu wirken. Nach und nach entfaltet sich das einzelne Werk vor unseren Augen, Linien bilden Flächen, Flächen bilden Muster. Auch erscheinen Muster mit diagonalen Farbflächen, obwohl er die diagonale Linie selbst ausschließt – ähnlich den Interferenzen, wie man sie von Licht-, Schall- und Materiewellen aus der Physik kennt.
Erst mit einigem Abstand zum Bild nimmt man diese wahr. Sie resultieren aus der Verschiebung jeweils eines Farblinienmoduls zur jeweils nächsten Reihe. Durchaus erinnert man sich an Aufnahmen aus dem Mikrobereich der Natur, obwohl Walter mit dergleichen nichts im Sinne hat.
Vielleicht spiegeln Walters Arbeiten eine Ahnung vom harmonischen Bau und System einer Natur, die unserem Auge verborgen ist. Paul Cezanne formulierte es so, dass der Künstler nicht nach der Natur, sondern analog zur Natur arbeiten solle.
NICOLETTA TORCELLI
Die Farbe, die Linie und die Kunst des Sehens
…Die Farbe, diese konstante Energie, kann niemals hundertprozentig definiert werden, sie zeigt ihre Ambivalenz nicht nur mit jedem Wechsel des Lichts, sondern ebenso im Verhältnis zu ihrer jeweiligen farblichen Umgebung. >Nur der Schein trügt nicht<, hat Joseph Albers einmal gesagt.
…Ebenso fußt die Arbeit von Günter Walter auf der Theorie der>Sieben Farbkontraste< des Bauhaus-Lehrers Johannes Itten. Speziell interessiert sich Walter für den Komplementärkontrast: für den subjektiv erlebten Kontrast zwischen zwei Komplementärfarben, die sich gegenseitig in ihrer Leuchtkraft verstärken. Auch der Simultankontrast spielt eine große Rolle, das heißt die Wechselwirkung von nebeneinanderliegenden Farbflächen, die zu einer Steigerung der Farbintensität führt.
TEXTQUELLE: GÜNTER WALTER – ZEICHNUNGEN 2001 – 2010
Katalog zu den Ausstellungen – Galerie artopoi – Freiburg, März Galerie – Mannheim, Museum Modern Art – Hünfeld
modo Verlag GmbH Freiburg i.Breisgau, 2011
günter walter
www.modoverlag.de
ikkp rehau
fotos| galerie wuensch aircube
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