2019|01 SIEGFRIED AMTMANN – WOLFGANG BERNDT

SIEGFRIED AMTMANN – overlap 1/2/3 – 2017 – Acrylglas/Leinwand/Holz – 51x74x6cm – foto|gwa

Im Labyrinth der Ambivalenz

Über die uneindeutige Eindeutigkeit der Kunst Siegfried Amtmanns

Die Arbeiten Siegfried Amtmanns sind nur schwer in gängige Kunstkonzepte einzuordnen (wie immer diese auch sein mögen im Zeitalter des „Anything goes“). Möglicherweise wirken sie zunächst etwas irritierend, verunsichernd, unterkühlt und hermetisch, in sich (ab)geschlossen und dennoch immanent ambivalent. Eine Ambivalenz, die sich auf allen Ebenen aufweisen lässt: Bildformen, die zu Objekten werden, d. h. Bildflächen, die sich in den Raum erweitern, reliefartig, skulptural – und dennoch wirken sie im Blickfeld erst wieder als Bildflächen. Bildflächen, die sich ineinander „verschachteln“ und verschieben, überlappen, und so die einzelnen unbunten Flächen in ihrer Skala der Grauwerte konstituieren. Auch die Materialität des Bild-Objektes ist ambivalent. Das bei diesen objektualen Bildformen verwendete Material, milchiges Acrylglas, wirkt sowohl glänzend und transparent, wie auch sichthemmend, eine abgestufte Opazität. Durchsichtig bis auf den Bildgrund, eine klassische Leinwand, und gleichzeitig dieses Sehen verschleiernd. Der gläserne Glanz, der im Grunde Klarheit und Reinheit suggeriert, wird durch ein Sfumato des Materials umgekehrt in die Wirkung einer Weichheit und Unschärfe, die wie ein Schatten des Sichtbaren am Sehen haften. Will uns der Künstler nun (etwas) sehen lassen oder will er es uns verweigern? Jedenfalls geben diese Bild-Objekte nur Seh-Schichten frei, einen geschichteten Sehraum, Zwischenräume des Hier und Dort, des Diesseitigen, Sichtbaren, und des Jenseitigen, Unsichtbaren. Exemplarisch für die Simultaneität des Hier und Dort, des Blickes, der eine Grenze überschreitet, der Möglichkeit zur Durchsicht wie zur Sichtverweigerung, des Sehens und Gesehen-Werdens, ist das Objekt der Jalousie – unleugbar auch ein Symbol des neugierigen, wenn nicht voyeuristischen Blickes.

Die evozierte Ästhetik spielt grenzgängerisch zwischen den Kategorien einer Industrie- bzw. „Hochglanz“-Ästhetik und einer Ästhetik des Kunstschönen, die sich gerade in Abgrenzung platter, oft hedonistischer „Schönheit“ definiert. Dennoch scheuen die Objekte nicht die Nähe und Berührung mit heutiger Design-Ästhetik, deren Wahrheit ja auch darin besteht, dass die Welt selbst nur mehr gefälliges Design ist. Als Kunst wirkt diese Design-Ästhetik aber provokant und reflexiv, d. h. sie ist radikal in Frage gestellt. Die Irritation, die das Design-Schöne an den Bild-Objekten hervorruft, muss in Frage nach Sinn und Funktion des Designs münden. An einem Kunstobjekt wird der nur scheinbare Sinn des Design-Schönen bis auf seine wirkliche Sinnlosigkeit (weil funktionslos) entlarvt.

Strategien der Negation

Die paradoxe „Verbildlichungs-Strategie“ Siegfried Amtmanns knüpft konsequent an der Negation des Bildes als Abbild, d. h. als Repräsentation phänomenaler Entitäten in „realistischer“ Manier und Gegenständlichkeit an. Seine Arbeiten verweigern auch die Tradition des Expressiven und Emotionalen, sie sind keine Beispiele einer (abstraktiven) „Ausdruckskunst“. Die Verweigerung und Negation alles Expressiven und Subjektiven, eine beinahe schon manisch zu nennende „Scheu“ und Ablehnung, etwas von seinem „Ich“ preiszugeben, setzt sich bis in den Herstellungsprozess der Arbeiten selbst fort: Der Künstler legt nicht selbst „Hand“ an, er verweigert sogar seine „Handschrift“ als subjektiv-künstlerische Komponente. Die Objekte sollen keine Spuren der materiellen Herstellung aufweisen, sie werden so weit wie möglich industriell-technisch produziert. Was für Siegfried Amtmann zählt, ist allein die „Idee“ und die Konzeption der Umsetzung seiner Ideen und Vorstellungen, nicht die praktische Ausführung der Arbeiten. Diese Arbeiten sind zwar keine vorgefundenen „ready-mades“ wie bei Duchamp, aber es sind gefertigte „ready-mades“, die in einem ähnlichen Sinne eine entscheidende Dimension des Begriffs Kunst und des Künstlerischen in Frage stellen. Ebenso wie Duchamp entkoppelt S. Amtmann den Begriff eines künstlerischen Objekts vom Faktor des künstlerischen Schaffensprozesses. Kunst ist die Idee und nicht die Ausführung. Damit negiert er einerseits die handwerkliche Dimension von Kunst, wie auch die letzten Elemente eines möglichen Subjektivismus. Dieser künstlerische Ansatz erscheint in extremis und bis in seine äußerste Radikalität weitergedacht als Aufhebung der Kunst überhaupt: Denn eigentlich müsste S. Amtmann auch das Objekt selbst weglassen und nur die Idee ausstellen: Könnte er es, würde er es vielleicht auch tun. So ist auch das Ereignis „Ausstellung“ selbst durch und durch ambivalent, denn seine Kunstkonzeption würde ihn strictu sensu zwingen, nicht auszustellen. Das äußerste Extrem ist aber selbst in der Kunst nicht realisierbar – es wäre eine Ausstellung, die nichts ausstellt, das Ausstellen des Nicht-Ausstellens. Der bereits aus der Kunstkonzeption Amtmanns ableitbare Reduktionismus wird in seiner Ambivalenz auch in den Bild- bzw. Objektformen aus Acrylglas anschaulich, wobei die für die Kunst notwendige Anschaulichkeit in Form einer sinnlich-materiellen Umsetzung freilich der grundsätzlichen Bewegung und Intention zutiefst widerspricht. Idealiter stünde an einem Ende die absolute Reduktion, der absolute Minimalismus. Der puristische Suprematismus K. Malewitschs hatte die Abstraktion (der Idee) bereits zur reinen Form des Quadrats selbst gesteigert, er hätte damit aber auch den Null- und Endpunkt der künstlerischen Möglichkeiten verwirklicht. Auch in dessen Nähe siedelt sich die Arbeit S. Amtmanns an, allerdings im Wissen, dass die von Malewitsch aufgezeigte „Lösung“ nicht mehr möglich ist. Seitdem muss jede Kunst „nach“ Malewitsch neu beginnen und ihre Grenzwerte neu definieren.

SIEGFRIED AMTMANN – grauer Filter 1 – 2016 – roter Filter 2 – 2016 – Acrylglas/Leinwand/Holz – 51x74x7cm – foto|gwa

Ordnung der Relationen – Relationen der Ordnung

Die bildliche Darstellung (wenn man es überhaupt so nennen darf) ist auf die Grundelemente der Geraden und Flächen, die die Logik der Relationen zwischen ihnen konstitutiv variieren, reduziert. Die Idee gestaltet sich in der Kombination zweier oder auch von drei miteinander korrespondierenden und „kommunizierenden“ Bildobjekten zum Programm, das die Spielräume auslotet. Die Ordnung der orthogonalen Flächen wird durch die jeweils unterschiedlich dominierenden Horizontalen und Vertikalen bestimmt. Diese repräsentieren die fundamentalen Kräfte der Bildordnung und gleichzeitig die Prinzipien absoluter Gegensätzlichkeit, aus denen heraus sich die Verteilung und der Rhythmus der Flächen ergibt, um derart die Idee der Ordnung in immer neuen Verhältnissen zu verwirklichen. Es geht also um den Begriff der Ordnung – keiner statischen, sondern einer Ordnung, die sich aus Verschiebungen und Differenzen immer wieder neu um ihr Zentrum bildet. Nur wo es Abweichungen von der absoluten Ordnung gibt, können sich neue Ordnungsstrukturen zeigen. Diese oszillieren in einem systemischen Ungleichgewicht zwischen den Sollwerten und erstarren nicht in exakten Symmetrien. Entscheidend sind die Relationen, Verhältnisse und Proportionen – dies verbindet diese Bildkompositionen z. B. mit jenen von Piet Mondrian, der ja ebenfalls eine Bildauffassung der abstrakten Malerei entwickelte, deren Formprinzip er selbst als „exakte Gestalt der reinen Beziehung“ bezeichnete und deren Ordnungsstruktur er als „dynamisches Gleichgewicht“ darstellte. Indem sich die Bildfläche in den Arbeiten Amtmanns auch in den Raum ausdehnt, wird die Ordnung der Fläche in eine Architektur der Ordnung transformiert.


SIEGFRIED AMTMANN – circlet series 1/2/3/2007 – Acrylglas/Leinwand/Holz – 73x51x6cm – foto|gwa


SIEGFRIED AMTMANN – circlet series 1/2/3/2007 – Detail – Acrylglas/Leinwand/Holz – 73x51x6cm – foto|gwa

Die Ambivalenz der Idee der Ordnung

Dieser abstrakte Geometrismus lässt nur über die Entzifferung der Titel eine vielleicht überraschende Dimension der Arbeiten erahnen, aber dies entspricht dem durchgängigen Prinzip der Ambivalenz, d. h. der Uneindeutigkeit bei scheinbar größter Eindeutigkeit. Die so eindeutige Orientierung der Arbeiten an einem „nur“ rationalistischen Prinzip wird durch eine psychologische Dimension aufgebrochen. Man könnte sagen, dass Amtmann die Ordnungsstrukturen in gleichem Maße auf Konkretes anzuwenden versucht – etwa auf die Welt der Psyche und Affekte. Denn die scheinbar abstrakten Verhältnisse der Bildfläche manifestieren letztlich auch Werte und Bewertungen. Die Strukturen unserer Sehräume – der Kunsthistoriker Erwin Panofsky nannte es in Anlehnung an Ernst Cassirer den „psycho-physiologischen Sehraum“ – sind nicht objektiv und neutral, sondern in ihrer Eigenheit als „symbolische Formen“ nach Werten gewichtet: oben und unten, links und rechts sind durch kulturell geprägte „Bedeutungsmuster“ kodifiziert, die sich besonders prägnant in der Opposition von „links“ (negativ, abwertend bis betrügerisch) und „rechts“ (positiv, dominant, richtig sein, Recht haben etc.) ausdrücken. Dem entsprechend werden die Bild-Objekte zu einem mehrdeutigen Spiel mit einer „Geometrie der Psyche“ oder einer „Architektur der Affekte“, aber auch ethischer Werte. Nicht zufällig ist man an die Ethik des Barock-Philosophen Spinoza mit seinem Entwurf einer „Ethica Ordine Geometrica Demonstrata“ erinnert.

SIEGFRIED AMTMANN – Morphogenetisches Feld 2/3/5 – 2015 – Siebdruck auf Papier – 70x70cm – foto|gwa

Siegfried Amtmann ist „besessen“ von der Idee der Ordnung, die er in seinen Arbeiten sprichwörtlich von allen Seiten zu beleuchten sucht, diese Idee immer wieder durchspielt – in allen möglichen Variationen, aber reduziert auf fundamentale Variablen der Gestaltung. Obsessionen verraten aber auch ihre Motive – den tiefen Zweifel an dieser Idee der Ordnung selbst. Um es mit Amtmanns Worten selbst zu sagen: „Ordnung ist kein Synonym für Sicherheit, Verlässlichkeit und das sogenannte Gute.“ Der Begriff der Ordnung ist selbst ambivalent, aber eben auch verführerisch.

                                                                                                                   Erwin Fiala

Textveröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Autors vom 12.11.2018

WOLFGANG BERNDT – 12K6 – 300x200cm – Druck auf LKW-Plane – 2018 – foto|gwa

Generative Computergrafik

Die illusionistische Bildkunst der Neuzeit begann mit einem Algorithmus namens „Perspektive“, formuliert 1435/36 in Leon Battista Albertis Traktat Della Pittura. Was der Algorithmus leisten sollte, war, kurz gesagt, die Transformation der Leinwand in ein Fenster, das Durchblicke auf eine dahinterliegende Welt von Objekten erlaubt. So richtete sich diese Kunst an ein Betrachterauge, das sie im Verbund von Mathematik, Komposition und Farbauftrag in ein täuschendes Spiel von Zeigen und Verbergen verstrickte. Ganz anders dagegen die generative Kunst aus dem Computer. Durch die Ausschaltung des Handwerklichen ist sie, was ihre Entstehung betrifft, ganz angewandte Mathematik. Sie ist daher, wenn sie gegenstandslos bleibt, auch nicht abstrakt, sondern vielmehr konkret – im Sinne reiner Konstruktion – und damit der Simulation näher als der Illusion. Gleichwohl kann sich der Betrachter in sie versenken, nun aber mit einem forschenden Blick, der verfolgt, wie Oberflächen strukturiert und aufgefächert werden oder auch architektonisch in den Raum zu treten scheinen. Wenn die generative Kunst gegenstandslos bleibt, dann nicht, weil sie ein Verbot befolgen würde, sondern weil das Bild hier selbst zum Gegenstand geworden ist, das auffordert, seinen Bauprinzipien nachzuspüren.

WOLFGANG BERNDT – 12K6 – Detail – 300x200cm – Druck auf LKW-Plane – 2018 – foto|gwa
WOLFGANG BERNDT – 1105.003 – Pigmenttinte auf photo rag – 60x60cm – 2011 – foto|gwa

Als vor 50 Jahren die ersten mit Digitalcomputern erzeugten künstlerischen Grafiken auf den soeben neu entwickelten Plottern sichtbar wurden, waren es Mathematiker und Ingenieure, die ihre eigene Tätigkeit des Programmierens auf diese Weise neu interpretierten. Was bislang allein der Steuerung maschineller Rechenoperationen gedient hatte, konnte nun als Gestaltungsvorgang begriffen werden, der Objekte der menschlichen Lebenswelt zu formen vermag. Als Vektorgrafiken waren sie keine digitale Streuung von Pixeln, sondern Visualisierungen von sich überlagernden Algorithmen und damit im Grunde analoge Bilder. Und da die Zeichenanweisungen stets arithmetische Zufallsgeneratoren miteinschlossen, hatte man den Eindruck, als träfen in diesen feinen Tintezeichnungen die eigentlich ganz unvereinbaren Positionen der konkreten und der informellen Kunst zusammen. Oder sollte man angesichts der Trennung von Computerprogramm und zeichnerischer Ausführung doch eher von einem technischen Zweig der Konzeptkunst sprechen?

WOLFGANG BERNDT – 1312.p21d –
40x40cm – (links) – 2013 – 1312.p08e – 40x40cm – (above right) – 2013 – 1103.031 – 60x60cm – (down right) – 2011 – Pigmenttinte auf photo rag – JAN DUDESEK – kinetisches Objekt – 2018 – 1/1 – foto|gwa
WOLFGANG BERNDT – sc_10.0.30.20 – sc_70.100.60.30 – Pigmenttinte auf photo rag – 60x60cm – 2007 – 5/6 – foto|gwa
WOLFGANG BERNDT – r1102.006_d – 1103.017_f – Pigmenttinte auf photo rag (links) – Pigmenttinte auf Fotopapier/Aludibond/Acrylglas – 2011 – 60x60cm – foto|gwa

Wolfgang Berndts generative Arbeiten stehen in der Tradition dieser ersten Computerkunst und gehen doch zugleich souverän über sie hinaus. Neben der Linie ist es bei ihm nämlich immer auch die Farbe, die, einschließlich ihrer Mischung und der Papierwahl, die Bildwirkung entscheidend bestimmt. So tendiert die Grafik hier zur Malerei. Die einzelnen Blätter sind jeweils Teil von Serien. Berndt hat sie zu Gruppen zusammengefasst, deren Titel (Segmentierungen, Mäander, Irrgärten, Schwingungen) elementare Operationen beschreiben, die als visuelle Spielanordnungen zu verstehen sind. Sich im Rahmen ihrer strengen Regeln zu bewegen, dient dem Ziel, überraschende Entdeckungen zu machen. Ein „Komplexitätsfernrohr“ hat Georg Nees, ein Pionier der generativen Grafik, den Computer einmal genannt. Man kann auch von rechnergestützter Strukturforschung sprechen. Mit ihr wird das Programmieren zu einem Experimentieren. Wolfgang Berndts Arbeiten sind daher immer auch so etwas wie kunstvolle Präparate. Als materielle Objekte machen sie zugleich etwas sichtbar, denn sie geben Einblick in das Spiel komplexer algorithmischer Prozesse, aus denen sie selbst hervorgegangen sind.

Hans-Christian von Herrmann

Textveröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Autors vom 13.1.2019

WOLFGANG BERNDT serendipity _forward – Lambdaprint/Aludibond/liquid gloss – 2014 – 120x30cm – 1/3 – foto|gwa
WOLFGANG BERNDT – counterpart_brown – Lambdaprint/Aludibond/liquid gloss – 80x80cm – 2015 – foto|gwa