VERA RÖHM
Ergänzungen
Ich glaube, dass in unserer Epoche aller Ausdruck mehr oder weniger vergänglich ist, ich kann nicht an die Ewigkeit eines Werkes glauben. Es kann heute zerstört werden oder morgen. Ich versuche, es einen bestimmten Zeitraum zu beschützen, da ich glaube, es kann (wenigstens) so bleiben wie die Pyramiden. Aber selbst diese werden auf diese oder jene Weise zerstört werden. Ich glaube nicht, dass jemand in unserer Epoche ein Bewusstsein der Ewigkeit haben kann, wissend, dass die Erde sich mehr und mehr der Sonne nähert und dass auch die Erde auf diese oder jene Weise ihr Ende finden wird. Wenn dieses Gefühl für Ewigkeit in früheren Epochen einst gepflegt werden konnte, so gilt dies nicht mehr für die unsrige. Uns ist gewiss, dass alles ein Ende hat, sowohl was unseren Planeten betrifft als auch unsere Existenz.
Auszug einer Rede von Vera Röhm anlässlich einer Ausstellung der „Ergänzungen“ in Paris, 2002
EUGEN GOMRINGER
„Die Nacht ist der Schatten der Erde“
….Was die schwarzen Kuben, nachdem Ihre geometrische und astronomische Herkunft wenigstens indirekt bewusst geworden ist, jetzt noch vermehrt ins Blickfeld rückt, sind die Texte, die auf Ihnen erstrahlen. Vera Röhm zeigte Kuben mit Texten zum ersten Mal 1999, um sie im Erfurter Forum über „Licht und visuelle Texte“, in nächtlicher Verzauberung der Öffentlichkeit im Flüsschen Gera schwimmend vorzustellen. Es war nicht mehr der Schattenwurf, der faszinierte, sondern es waren die Texte. Hier wird eine weitere Ader der Künstlerin sichtbar. Sie schreibt, dass sie 1985 beim Studium einschlägiger Texte zum Themenkreis Schatten, Schattenbewegung im Deutschen Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm auf den lapidaren, aber großartigen Satz von Johann Leonhard Frisch (1666-1743) stieß: „Die Nacht ist der Schatten der Erde“.
Sie muss den Fund fast mit Bestürzung als treffend für Ihre Schattenuntersuchungen begrüßt haben. Ebenso kam es ihr nun aber auch zugute, dass sie polyglotter Natur ist.
Der deutsche Satz wurde also – im Jahr 1995, vor dem Erfurter Forum – übertragen in bekannte Idiome, aber auch in solche, deren Schrift allein als solche besticht. Sie hat mit Ihren Kuben einen ganzen Völkerbund zusammengetragen.
Entnommen „TOPOS X CHRONOS durch 2“, Katalog zur gleichnamigen Ausstellung in der Städtischen Galerie Speyer vom 11.10.2009
DIE SICHTBARMACHUNG VON ZEIT
Deutlich ist die sich ständig verändernde Winkelposition der Erde zur Sonne zu erkennen. Wir spüren die Umdrehung der Erdkugel nicht, von unserem Standort aus empfinden wir unsere Position als statisch und dabei irren wir uns.
Denn wir alle – auch der Ort – befinden uns inmitten der Dynamik, die auf diese Weise sichtbar wird.
VERA RÖHM
Entnommen „TOPOS X CHRONOS durch 2“, Katalog zur gleichnamigen Ausstellung in der Städtischen Galerie Speyer vom 11.10.2009
STÜTZWERKE
Bereits die frühen Aufnahmen von Stützwerken im Pariser Stadtviertel Marais um 1977 waren von einem solch objektivierten Pathos gezeichnet. Durch die archaische Technik exotisch anmutend, scheint das wuchtige Holzgerüst in die Natur eingekehrt zu sein. Im labyrinthisch vernetzten Gebälk spürt das Auge der Künstlerin nach keimenden Formen. Sie markiert mit dem Farbstift auf die Oberfläche des fotografischen Tafelbildes kleine geometrische Zonen, sie wühlt auf, reißt um, ordnet an, deckt ab – das sind durchforschende Handlungen, die Momente der Morphogenese in Erfahrung bringen wollen. In den freigelegten Mikrostrukturen verspricht die graphische Präzision ein Wissen, das Versprechen löst sie aber nicht ein, es ist vielmehr das Rätsel, das sie betont. Das waren in Vera Röhms OEuvre frühe Anzeichen jener rastlosen Geistesverfassung, die sie treibt, die Ansicht der Dinge nach dem Bodenlosen hin zu erschließen.
ANCA ARGHIR
Entnommen VERA RÖHM, 2007, Wienand Verlag, Köln
HORST HAACK
CHRONOGRAPHIE TERRESTRE
work in progress
ist der Titel eines in jeder Hinsicht ungewöhnlichen Projektes, denn es ist Skizzenblock, Tagebuch und Werkverzeichnis in einem. Erlebnisse, Eindrücke, Erfahrungen des Künstlers, seit 1981 niedergeschrieben, sind der literarische Aspekt eines gewaltigen und zugleich filigranen Werkes aus gemalten, gezeichneten und collagierten Blättern. Alltägliche Fundstücke, anatomische Darstellungen und surreale Szenen verbinden sich zu einem Kompendium, das nicht nur als zeithistorische Quelle, sondern auch als künstlerisches Lebenswerk zu lesen ist.
Eine weitere Potenzierung entsteht durch den Aufbau der Chronographie als Gehäuse. Die drei Kuben bestehen aus insgesamt 162 Tafeln mit 4860 Einzelblättern. Die zusammengefügten Tafeln mit ihrer systematischen Anordnung schaffen vielfältige visuelle Strukturen, muten an wie ein vielfarbiges „patchwork“ mit fließenden Übergängen. Die Zweidimensionalität der Papiere geht in die Dreidimensionalität eines um- und begehbaren Raumes über, in dem die Tagesblätter beinahe labyrinthisch präsentiert werden. Zu dieser Ausstellungsform fand HAACK 1989. Dazu eingeladen, seine Tafeln an einem ungewöhnlichen Ort, der Buchhandlung Wendelin Niedlich in Stuttgart, zu zeigen, sah er sich mit von Büchern bedeckten Wänden konfrontiert. Er musste in den Raum ausweichen und kam auf die Idee des freistehenden, oben offenen Kubus (162 x 162 cm), der aus einem schlichten Metallgestänge bestand, in dessen vier Außen- und Innenseiten insgesamt 22 Bildtafeln untergebracht werden konnten. Infolge der fortgesetzten Arbeit kamen zwei weitere, größere Kuben hinzu. Die aktuelle Konstruktion misst sechs mal sechs Meter und beinhaltet 162 Tafeln. Sie umfasst die ersten beiden Gehäuse. Ein viertes wird es wohl aus Zeitmangel niemals geben können.
Auszug aus HORST HAACK, Chronographie Terrestre, Seite 6-9, Kai Artinger, Berlin, aus dem Begleittext zur Ausstellung „Schrift x Bild hoch drei“, Günther Grass-Haus, Lübeck, 2004 – TOPOGRAPHIE DE LÁRT, 15, rue de Thorigny – 75003 Paris
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